Mit der Lichtskulptur „aura“ hat Brigitte Kowanz ein Lichtsystem geschaffen, das nicht nur auf sich selbst, sondern vornehmlich auf den die Lichtskulptur umgebenden Raum bezogen ist. Die Skulptur verändert den Raum, scheint ihn aufzulösen und neu zu definieren. Der Begriff Aura kommt aus dem Lateinischen und bedeutet „Hauch“. Er bezeichnet ein Phänomen, das man nur erahnen und erfühlen kann, eine flüchtige Erscheinung, eine unsichtbare Kraft oder auch die ungreifbare Ausstrahlung einer Person. In der christlichen Ikonographie wird die Aura zur „Aureole“, dem Heiligenschein. Dieses christliche Symbol für das „göttliche Licht“ wird häufig als mehr oder weniger stilisierter, leuchtender Kreis dargestellt. Künstler haben über die Jahrhunderte hinweg immer wieder versucht, für diesen immateriellen „Hauch“ eine bildhafte Form zu finden. Die Symbolik des Lichts als „göttlichen Schein“ beeinflusst das Denken von Brigitte Kowanz kaum. „Vielmehr ist es die Herausforderung mit Hilfe des Immateriellen etwas materiell und bildhaft darzustellen.“* Sie stellt sich der Herausforderung, mit ihren künstlerischen Mitteln, Licht und Sprache, die auratische Erscheinung sichtbar und erlebbar zu machen. Indem sie mit dem geschriebenen Wort „aura“ genau auf das verweist, was im Werk zu sehen ist, bannt sie das Licht in eine Sprachfigur, die sich selbst beschreibt. Die „Aura“ ist somit doppelt sichtbar, in verbaler und optischer Form.
Darüber hinaus dehnt sie den „Hauch“ der Lichtfigur über die Objektgrenze hinaus aus. Indem sie das Licht der Neonröhren in einem Spiegel an der Decke reflektieren lasst, öffnet sie den Raum scheinbar nach oben und verstärkt den Effekt der räumlichen Durchdringung. Gleichzeitig fallt die Reflexion auf die Lichtkugel zurück und verstärkt die diffuse, farbnebelartige Atmosphäre, die den Raum geheimnisvoll verändert.
Der Spiegel ist in der Kunstgeschichte ein bedeutungsgeladenes Symbol. Da er alles widerspiegelt und der Selbstbetrachtung dient, kann er verborgene Wahrheiten und Erkenntnisse preisgeben. Ein Spiegelbild verkörpert das „Jetzt“ und ebenso die Vergänglichkeit, und macht deutlich, dass alle irdischen Erscheinungen flüchtig und zeitlich begrenzt sind. Der Betrachter, der direkt unter der Kugel steht, wird durch den Spiegel in das Lichtspiel hinein gesogen. Er findet sein schemenhaftes Spiegelbild hinter dem Netz der Buchstaben wieder – im wörtlichen Sinne umgeben von einer Aura. Brigitte Kowanz Aura-Kugel hingegen entrückt das Spiegelbild in unerreichbare Ferne – als inszeniertes Wechselspiel aus Vorstellung und Wirklichkeit.
Daphne Mattner, Brigitte Kowanz: Morsealphabet und Aura, in: BEI NACHT. Lichtkunst aus der Sammlung Robert Simon, hrsg. v. Robert Simon, Susanne McDowell, Julia Otto, Celle 2010, S. 108 - 115.