Gegen Ende der 1950er Jahre etablierte sich die kinetische und scheinkinetische Kunst als internationale Bewegung. Seit 1964 wurde sie als Op Art bezeichnet (abgeleitet aus dem engl. Begriff optical art). Gianni Colombo zählt neben anderen Künstlern wie Victor Vasarely, Bridget Riley oder auch Jesus Rafael Soto zu den eindrucksvollsten Vertretern dieser Richtung. Das Neue an der Op Art war, dass sie sich direkt an die Betrachterinnen und Betrachter richtete, sie aktiv und physisch in das Kunstgeschehen einbezog. Ihre Rezeption erforderte keine theoretischen oder ikonographischen Vorkenntnisse, sondern vor allem einen offenen und wachen Geist, der Lust daran verspürt, das Sehen selbst neu zu erfahren. In diesem Sinne kann die Op Art-Bewegung durchaus als bedeutsamer Baustein für ein verändertes Verständnis von Kunst und ihrem Auftrag für die Gesellschaft seit den 1960er Jahren verstanden werden. Werke der Op Art und der kinetischen Kunst bedienen sich meist des konstruktiv-konkreten Formenvokabulars. Sie verwenden Farb- oder Schwarz-Weiss-Kontraste, geometrische Muster oder serielle Ordnungen, um Bewegungs- oder Vibrationseffekte sowie optische Irritationen hervorzurufen. Dabei wird das Publikum durch seine Bewegungen vor oder in dem Werk zu einem schöpferischen Teil des Kunsterlebens. In den Objekten und Environments von Gianni Colombo geht diese Interaktion zwischen Werk und Betrachter jedoch noch einen Schritt weiter: Colombo konzipierte seine Werke so, dass sie zwar mechanisch programmiert sind, die BetrachterInnen aber physisch in die Struktur eingreifen und sie dadurch variieren können.
Bereits in seinen frühen Arbeiten, die noch Gemälde, Objekte und Reliefs sind, lassen sich zum Beispiel die Oberflächenstrukturen mit den Fingern verändern ("Rilievi Intermutabili", 1959) oder die Lichtprojektionen auf elektromechanisch bewegten Oberflächen beeinflussen. Ab 1964 entstehen Gianni Colombos "Ambienti", die mit künstlichem Licht und variablen Strukturen räumliche Inszenierungen schaffen. Colombo nannte sie auch "Spazi elastici", elastische Räume: Dehnbare Schnüre werden horizontal und vertikal von Motoren bewegt, wodurch sich – langsam, aber stetig – die räumlichen Konstellationen fortlaufend verändern.
Colombos Werke erzeugen jedoch nicht nur visuelle Phänomene wie Nachbilder, Farbvibrationen oder Lichtflimmern. Insbesondere seine raumgreifenden Werke werden zu einer umfassenden sinnlichen Erfahrung, die das Wahrnehmungsvermögen der Betrachterinnen und Betrachter anspricht und gezielt in Frage stellt. Eindrücklich erfahrbar wird dies gleich im Erdgeschoss mit der grossen, raumgreifenden Arbeit "Barriestesia" (1975/2008), die im grossen Ausstellungssaal zu sehen und zu begehen sein wird. Die Arbeit wurde zum ersten Mal für die Ausstellungen in Graz und im Haus Konstruktiv nach Originalskizzen Colombos realisiert.
https://kultur-online.net/inhalt/gianni-colombo-ambienti (04.05.2019)